Sachbuch: „Das Haus gehört uns allen!“

Tanja Tschöke_Das Haus gehört uns allenEs ist ein dickes und wertvolles Buch geworden – mit einem reduziert wirkenden Einband. Darauf findet sich kein Bild, dafür gibt es zum Text aber viele schöne historische Fotos. Auf 371 Seiten dokumentiert die heute 52-jährige Sozialpsychologin und Pädagogin Tanja Tschöke hannoversche Stadtgeschichte.

Dargestellt werden für die Jahre 1971 bis 2021 insgesamt 64 Hausbesetzungen bzw. daraus entstandene selbstverwaltete Gemeinschaftsprojekte in Hannover – von der brutal polizeilich geräumten Arndtstraße 20 bis zum Bumke-Gelände am Engelbosteler Damm.

Positive Impulse für entstehende und zukünftige Projekte

„Sie haucht, nein, sie bläst den Ereignissen Leben ein“, so Bauhistoriker Sid Auffarth im Vorwort des Buches. „Zeugnisse der Vergangenheit können Auskunft darüber geben, was alles möglich ist, da es bereits in der Realität stattgefunden hat“, schreibt Tanja Tschöke. Sie hoffe, „dass die beschriebenen Mitbestimmungsprozesse als positive Impulse für entstehende und zukünftige Projekte genutzt werden können.“

Fitness Stadt Linden
Fitness Stadt Linden
Davenstedter Straße 80 A+B
30453 Hannover

Acht Jahre dauerte die Recherche zu diesem Buch. Neben einer in Teilen fast wissenschaftlich anmutenden Chronologie von Häuser- und anderen in Hannover geführten Kämpfen beschreibt Tschöke ihre eigenen Erfahrungen: Elf Jahre lebte sie selbst auf Bauwagenplätzen. Lebendig sind zahlreiche von ihr geführte Interviews, in denen die Sichtweise von Zeitzeug*innen nachvollziehbar wird.

Wandzeitung Besetzung Wesselstr. 29_Juli_1979
Wandzeitung der Besetzung Wesselstraße am 29. Juli 1979

Bürger*innenbeteiligung bei der Stadtteilsanierung

Einer der Protagonisten in Tschökes Buch ist Horst Leukefeld. Der war bis zu seiner Verrentung lange Jahre im damaligen Stadtplanungsamt als Koordinator für soziale Brennpunkte tätig. Zu seinen Aufgaben als amtlicher Koordinator zählten etwa die Problemstadtteile Vahrenheide und Sahlkamp, wilde Siedlungen am Altwarmbüchener Moor sowie die Befriedung der Sprengel-Besetzung in der Nordstadt und der sich ausbreitenden Bauwagenplätze. Partizipation war für den engagierten Stadtangestellten immer selbstverständlich. „Versammlungen abzuhalten, auf diese Weise die Bürger zu informieren und zu beteiligen, bewährte sich“, schreibt Leukefeld in seinem Beitrag zum Buch. Auch zum Thema Ihme-Zentrum trägt er etwas bei.

Die seit Anfang der 1970er Jahre gelaufene Beteiligung von Bürger*innen bei der Stadtsanierung in Linden-Süd wird im Buch besonders gewürdigt. Hier gab es auch Hausbesetzungen, anfangs gemeinsam getragen von einer „Unabhängigen Bürgerinitiative“ und einer „Aktion Wohnungsnot“. Beispiele finden sich in der Charlotten-, der Kaplan- und der Franzstraße. Einige der damals „instandbesetzten“ Häuser konnten vor dem Abrissbagger gerettet werden und stehen noch heute.

Viktoriastraße im Juli 1979
Protestaktion in der Viktoriastraße im Juli 1979

In Linden gab es zahlreiche Hausbesetzungen

Abrissbagger in der Velvetstraße März 1981
Abrissbagger in der Velvetstraße im März 1981

Später dann gab es im Stadtteil weitere „Häuserkämpfe“. So versuchten zwei Einzelkämpfer im Sommer 1979 nach einer Kampagne gegen Leerstand in ein gut erhaltenes Hinterhaus in der Wesselstraße 29 einzuziehen. Nach vier Tagen kam der Rauswurf durch die Stadt. Das kleine Haus wurde kurzum abgerissen, den verhinderten Instandbesetzern wurde eine städtische Ersatzwohnung angeboten.

Im gleichen Sommer 1979 verhinderte in Linden-Nord eine Gruppe von Stadtteilaktivist*innen die von der Stadt geplante Flächensanierung der Arbeiterhäuser in der Viktoriastraße. Dabei kam es auch zu einer kurzfristigen Besetzung eines bereits zugemauerten städtischen Hauses. Im Ergebnis konnte das komplette Ensemble vor dem Abriss gerettet und mit angepassten Neubauten komplettiert werden. Für die Stadt gilt die Viktoriastraße heute als ein beliebtes Vorzeigeobjekt einer gelungenen Sanierungsmaßnahme.

Im März 1980 kaperte eine Gruppe junger Wohnungsloser das von der Stadt zunächst auf Abriss gesetzte Fachwerkhaus Ricklinger Straße 46. „Häuser sind zum Wohnen da“ lautete eine ihrer Parolen. Nach drei Monaten zogen die Besetzer freiwillig aus, nachdem ihnen unter Vermittlung des kirchlichen Martinswerks von der Stadt zwei sogenannte „Leihhäuser“ in Groß-Buchholz angeboten worden waren. Das Gebäude ist später an Privatleute verkauft und mit Förderung aus Sanierungsmitteln modernisiert worden – es steht heute noch.

Besetzerwelle im gesamten Stadtbezirk Linden-Limmer

Ricklinger Str 46_März_1980
Ricklinger Straße 46 im März 1980

Das Jahr 1981 war bundesweit der Höhepunkt einer Besetzerwelle. Allein in Westberlin waren über 170 leer stehende Häuser gekapert worden. In Linden-Nord zogen im Frühjahr Wohnungslose in zum Abriss bestimmte Hinterhäuser in der Benno- und der Velvetstraße ein.

Der genossenschaftliche Eigentümer Spar- und Bauverein veranlasste kurzfristig die polizeiliche Räumung und ließ die Gebäude danach abreißen. In der Velvetstraße mussten die Besetzer*innen in einer spektakulären Polizeiaktion vom Dach geholt werden.

Erfolgreicher war eine Besetzung in der Stärkestraße. In die ehemalige Direktionsvilla konnten Wohngemeinschaften einziehen. Später trat im Stadtbezirk die „Gruppe Ahoi“ auf den Plan. Schlagzeilen machten insbesondere deren Besetzungen 2011 in der Limmerstraße 98 und in der Gartenallee 14, die beide mit Polizeieinsätzen beendet wurden. Noch im laufenden Jahr 2025 gab es im Stadtbezirk kurzfristige und eher symbolische Hausbesetzungen, etwa in der Wunstorfer-, der Davenstedter- und der Nieschlagstraße.

„Allen Besetzungen gemein ist, dass darüber auf politische und soziale Probleme hingewiesen wurde und durch die Besetzung eigenhändig eine direkte Abhilfe geschaffen werden sollte“, schreibt Tschöke. Leider scheint heutzutage auch in Hannover polizeiliche Räumung spätestens nach 24 Stunden durchgehende Direktive zu sein. Kriminalisierung der Besetzer*innen inbegriffen.

Tanja Tschöke / „Das Haus gehört uns allen!“ / Edition Assemblage 2025 / 28 Euro

Bildnachweis: Wolfgang Becker, Tanja Tschöke, Heinz Jörgen Kunze von Hardenberg

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