Mich fasziniert das urbane Potential
Wenn man Klaus Gürtler besuchen will, nimmt man am besten den Fahrstuhl bis in den 10. Stock, der eigentlich der 15. ist, weil die Wohnetagen extra gezählt werden. Auf dem Weg zu seiner Wohnung, in den Laubengängen vor den Eingangstüren, kann man Linden-Nord, die Ihme, das Heizkraftwerk mit den drei warmen Brüdern, die Grünflächen der Parks und Gärten sehen. In der Wohnung öffnet sich dann der Blick über die Stadt über die Hildesheimer Berge bis zum Harz und sogar bis zur Marienburg.
Seit 2006 lebt Klaus Gürtler mit seiner Ehefrau Monika Herlt im Ihmezentrum. Aus dem großen Wohnzimmerfenster und vom Balkon kann man bei gutem Wetter bis zum Brocken und weit über die Stadt schauen, ganz nah ist das Rathaus, die Marktkirche und die norddeutsche Landesbank zu sehen. Der Dreiklang aus Kirche, Kapital und Politik, sagt Klaus und lacht.
Vor gut 14 Jahren sind er und seine Frau von Herrenhausen ins Ihmezentrum gezogen, nachdem ihr erwachsener Sohn bei ihnen ausgezogen war. Beiden gefiel das Ihmezentrum, damals war der Mietenmarkt noch ziemlich normal, und da sie schon seit vielen Jahren auch eine Wohnung auf dem Lande haben, fanden sie hier, inmitten der Stadt, das urbane Gegenstück für ihre Lebensgestaltung. Einen besonderem Lieblingsort hat Klaus im Ihmezentrum nicht, aber es gibt einige Orte, die ihn faszinieren und seine Fantasie anregen. Das technische Geschoss zwischen den unteren und oberen Stockwerken der Gebäude zum Beispiel, das entfernt an den Bahnsteig 9 in den Harry-Potter-Romanen erinnert, den ‚lost place‘ des großen Partyraums direkt über dem Foyer ihres Hauses, der von jedem Mieter für größere Feiern genutzt werden könnte oder die von den Architekten als Marina und Bootsanlegesteg gedachte Grünfläche an der Ihme. Orte, die beim Bau des Ihmezentrums angelegt wurden, aber, vom Zwischengeschoss abgesehen, kaum oder nie im Sinne der Planung genutzt wurden. Für Klaus Gürtler ist das urbane Potenzial das Beste am Ihmezentrum. Den ursprünglichen Plan, in diesem großen Gebäudekomplex Wohnen, Gewerbe und soziales Leben miteinander zu verbinden, findet er grundsätzlich nicht falsch und lebt viel lieber hier als in einem Neubaugebiet am Rande der Stadt. „Das Problem ist natürlich, dass dieses Potenzial zurzeit geradezu zerstört ist.“ Damit das Ihmezentrum Strahlkraft entwickelt, müsste es sich mehr in sein städtisches Umfeld öffnen. „Diese Öffnung zur Blumenauer Straße ist wichtig, aber auch zum Schwarzen Bären. Das sind Achsen, die nicht besonders ausgeprägt sind.“ Auch die Achse nach Linden Nord, zum Faustgelände und zur Limmerstrasse könnte mehr geöffnet werden. Die Verlegung der Straßenbahnhaltestelle von der Limmerstrasse in die Spinnereistrasse, für die er vor ein paar Jahren plädiert hatte, hätte da vermutlich einiges geändert. Wenn die Stadtwerke, die auf der anderen Seite des Flusses schon mit ihrem Neubau begonnen haben, aus dem Ihmezentrum ausziehen werden, wird es noch mehr freie Flächen geben. Das urbane Potenzial wächst, wenn man die Chancen nutzt, mehr Wohnraum könnte geschaffen werden, aber auch kulturelle Nutzungen, wie beispielsweise die Einrichtung eines hannoverschen Tanzhauses, über das vor einigen Jahren nachgedacht wurde, wäre interessant. Deshalb engagiert sich Klaus auch bei der Zukunftswerkstatt im Ihmezentrum.
Manchmal wünscht sich Klaus nachts mehr Ruhe. Gerade jetzt im Sommer und wegen Corona. „Hier auf den Ihmewiesen spielt sich nachts ganz schön was ab. Das ist hier wie ein Schalltrichter. Wenn auf den Wiesen jemand seine Musikanlage andreht, dann können wir hier alle mitsingen. Und wenn es dann nachts kaum unter 30 Grad wird, schläft man gern mit offenem Fenster. Das ist dann sehr schwierig“, sagt er. „Aber ich kann mir schlecht Urbanität wünschen und dann Ruhe wie im Kurpark.“
Den Freunden und Bekannten, die sie in ihrer Wohnung besuchen, gefällt es auch hier. Ausnahmslos. Was sollte man auch ernsthaft gegen diese schöne 3-Zimmerwohnung mit dem fantastischen Ausblick und dem guten Grundriss sagen? Nur diejenigen, die noch nie bei ihnen im Ihmezentrum gewesen sind, haben negative Assoziationen, wenn sie hören, dass sie im Ihmezentrum wohnen. Das schlechte Image hält sich, trotz der vielen Vorteile, von denen Klaus und seine Frau berichten können, weiterhin hartnäckig.
Auch in der Hausgemeinschaft fühlen sich seine Frau und er wohl. Es ist eine gute Nachbarschaft. Nach 14 Jahren, die sie hier leben, kennen sie die meisten anderen Bewohnerinnen. Zu fünf oder sechs anderen Nachbarn haben sie engeren Kontakt. Von Zeit zu Zeit gibt es auch gegenseitige Einladungen. Die Verantwortung dafür, dass es hier in diesem Haus und im Ihmezentrum gut läuft, glaubt Klaus, liegt nicht in erster Linie bei der Stadt, dem Investor oder den Eigentümern, sondern zuerst bei den Menschen, die hier wohnen, egal in welcher rechtlichen Position sie sich befinden. Sie gestalten das Leben – natürlich auch, indem sie ihre Ideen entwickeln und diese gegenüber den Dritten formulieren und vertreten. Mit Sicherheit ist das auch ein starkes Motiv, warum die Zukunftswerkstatt im Ihmezentrum gegründet wurde.
Natürlich haben wir viel mehr geredet, als ich hier berichten kann. Klaus hat einen Tipp für mich und zitiert Kurt Tucholsky: „Die Seele jeder Ordnung ist ein großer Papierkorb.“ Wir lachen. Aber ich bin um den Tipp froh und werde in Zukunft sicherlich noch öfters daran denken. Vor allem bleibt die Gastfreundschaft, die Herzlichkeit und Offenheit, mit der wir gesprochen haben. Da ist es wieder: Die Menschen sind wichtig, die hier leben. Sie tragen die Verantwortung für den Ort. Sie öffnen die Türen und nehmen die anderen mit.
Das Gespräch mit Klaus Gürtler führte Carsten Hentrich
Teil 1 / Teil 2 / Teil 3 / Teil 4 / Teil 5 / Teil 6 / Teil 7 / Teil 8