Lindener Butjer (I): Der Schriftsteller Günter Müller

Günter Müller
Günter Müller

Linden hat mich eindrucksvoll geprägt

Ein „Schwaan“ ist kein Schwan, sondern ein Schwein. Zumindest sah ein Lindener das so, oder besser: Man redete in Linden früher so. Ein Schwan wurde übrigens „Schwöön“ ausgesprochen. Die alten Lindener*innen schienen eine Vorliebe für langgedehnte Vokale gehabt zu haben. Unter diesen bevorzugten sie das A, das Ä oder das Ö. Hört sich gemütlich an, die Zeiten waren aber andere. Und „der Lindener an sich“ konnte auch sehr ungemütlich und robust werden. Solche Erkenntnisse können heutige Lindener*nnen aus den lehrreichen und vergnüglichen Lesungen von Günter Müller zum fast untergegangenen Lindener Platt und aus seinen Geschichten über Linden gewinnen.

Günter Müller gehört zu den wohl bekanntesten Lindener Schriftsteller*innen. Er hat viel Literarisches verfasst und in letzter Zeit auch einiges über Linden geschrieben. So in dem 2002 erschienenen lesenswerten Band „Unvollständige Rückkehr an vergangene Orte“ über seine nicht gerade einfache Kindheit an der Limmerstraße. Angefangen zu schreiben hat er schon in sehr jungen Jahren. Dass aus ihm ein bekannter Schriftsteller werden wird, war in seiner Kindheit und Jugend allerdings nicht absehbar gewesen.

1944 wird er in Bad Gandersheim geboren und verbringt die ersten Jahre in Lamspringe im Vorharz. 1947 pachten seine Eltern die Bäckerei Wucherpfennig in der Limmerstraße 58. Sie müssen die Bäckerei 1957 als Folge der Trunksucht des Vaters aufgeben. Eine der Nachfolgebäckereinen ist lange Jahre das „Doppelkorn“ gewesen. Heute backt hier die Bio-Bäckerei „Linden backt!“ für Linden.

Der kleine Günter geht in den Kindergarten der Bethlehemkirche und besucht ab 1950 die Hennigesschule (heute Eichendorffschule), fühlt sich hier aber nicht wohl, wechselt 1955 zur Pestalozzischule (heute Grundschule am Lindener Markt) und schließt mit der Mittelschule ab. Er ist in jungen Jahren kein guter Schüler, eher ein Tagträumer und Geschichtenerzähler. Er hat das Glück, dass einige Lehrer*innen, so Frau Küster (genannt „Oma Duck“) oder Herr Strube sein Talent erkennen und ihn fördern. Der gerade 13-jährige Günter zieht in Unfrieden mit der Familie dann auf eigene Faust zu Verwandten zurück nach Lamspringe. Bereits um 1960 herum schreibt er erste, noch unveröffentlichte Gedichte. Er nähert sich seinen Eltern wieder an. Sie sind inzwischen in ein Haus an der Fössestraße gezogen, das allerdings bald für den Westschnellweg abgerissen werden muss. Nach dem Umzug nach Mittelfeld beginnt er eine Lehre als Industriekaufmann.

In seiner Freizeit ist er leidenschaftlicher Leichtathlet und Fußballer. Er erkundet, meistens trampend, viele Länder Europas und verarbeitet dies auch literarisch. 1967 heiratet er Bärbel Dießelmann. Linden ist in der Nachkriegszeit kein schöner Ort zum Wohnen, einiges ist – wenngleich deutlich weniger als Hannover – noch kriegsbeschädigt und vieles baulich und technisch völlig überholt. Von den jüngeren Leuten wollen viele weg aus Linden. Auch Günter und Bärbel Müller ziehen lieber nach Badenstedt. Sie leben dort noch heute unweit des Benther Bergs.

Die Schreiberei hat ihn nie losgelassen. Er wird Mitglied im „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ und verarbeitet das Berufsleben literarisch, schreibt Gedichte, die in den hannoverschen Zeitungen veröffentlicht werden und liest im Rundfunk. Manche Stücke werden als Hörspiele gesendet, nach einer seiner Erzählungen wird ein Kurzfilm gedreht. Günter Müller wird mehrfach ausgezeichnet. Er ist als Schriftsteller also durchaus erfolgreich und wird deshalb 1976 als einer von zwölf jungen deutschen Autoren zu einem Stipendium in die USA eingeladen.

Linden ist in seinen Gedanken und Texten lange nicht vorhanden. „Doch als ich während des USA-Stipendiums wochenlang sehr mit mir allein war, in einer total fremden Umgebung und unter verunsichernden Bedingungen, habe ich mit dem Schreiben darüber angefangen, und zweifellos dorthin zurückgefunden. Als ich dort wieder ankam, geschah das an einem veränderten Ort. Doch dessen Neuartigkeit habe ich so aufmerksam empfunden, dass ich den Neubeginn ebenso wissentlich vertieft habe, wie die Erinnerungen. Linden hat mich eindrucksvoll geprägt. Davon will ich überhaupt nicht lassen.“

Er beginnt das Lindener Milieu seiner Kindheit zu beschreiben. Die Zeit war sehr spannend und erlebnisreich, wird aber keineswegs romantisierend oder verklärt dargestellt. Schließlich war die Zeit eben nicht nur schön. Sie war vor allem durch die im Arbeiterviertel übliche Armut geprägt, so auch Günter Müllers Kindheit. Beruflich geht es für ihn bergauf. Seit 1977 und bis zur Rente 2006 ist er im Berufsbildungswerk des Annastifts beschäftigt und hilft jugendlichen Behinderten bei der Berufsfindung.

In den letzten Jahrzehnten ist er durch Lesungen im Mittwoch:Theater, tak, Freizeitheim, FAUST, zahlreichen Schulen und Bibliotheken auch in Linden bekannt geworden. Seit 2007 liest er etwa für Quartier auf dem Scillablütenfest seinen Mitmachsprachkurs „Waaste aagentlich wie se ßspräöchen?“. Aufgrund der Recherche und Gespräche mit älteren Lindener*innen, vor allem ehemaligen BDM-Mädchen (Bund Deutscher Mädchen), beschreibt er das Verhältnis der Lindener*innen zum Nationalsozialismus in seiner Lesung „Aus der braunen Zeit im roten Linden“ keineswegs unkritisch, denn auch das rote Linden war weitgehend braun geworden.

Außerdem erzählt er bei Rundgängen für Lebensraum Linden über seine Kindheit in Linden-Nord und versetzt die Teilnehmenden zurück in die Zeit der Lindener Butjer. Ist er selber einer? „Ja, ich bin ein wirklicher Butjer. Die sind, wie die Bezeichnung sie genau benennt, nicht in Linden geboren, sondern von „buten rinn“(von draußen herein) zugezogen, um hier zu leben.“

Günter Müller ist in Linden heute noch aktiv, so im Netzwerk Archive Linden-Limmer. Sein Lindener Mittelpunkt ist die Limmerstraße. Hier liebt er das bunte Treiben, er beobachtet aufmerksam und nüchtern, durchaus der Vergangenheit nicht nachtrauernd die interessanten Veränderungen. In der „Unvollständigen Rückkehr…“ beschreibt er die Straße in einer ganz anderen Situation als die meisten den lauten Lindener Broadway wahrnehmen: „Zuweilen schwieg die Limmerstraße ganz unvermittelt. Keine Motorengeräusche mehr von Autos, weder Rattern noch Quietschen einer Straßenbahn, nicht ein einziger Ruf, nicht einmal mehr Worte im Gespräch. Schuhe und Stiefel nicht mehr hörbar auf dem Asphalt. Das Leben schien stillzustehen oder stand still im eigenen Körper. Einen Herzschlag lang oder zwei oder mehr. Bis es sich hörbar wieder bewegte, die Geräusche zurückkehrten, die Laute, die Worte.“

Wer am nächsten Rundgang von ihm durch Linden-Nord teilnehmen will (am 29.5.21 um 14 Uhr, Start passenderweise an der Bäckerei Limmerstraße 58) wird ihn an seiner weißen Mähne und Vollbart, oft mit Baskenmütze, unschwer erkennen. Anmeldung und Kontakt: g.mueller@htp-tel.de

Lindenspiegel 05-2021 (PDF)

Bildnachweis: Jonny Peter