Das Kesselhaus auf dem Faustgelände bot am 18. September 2022 den morbiden Rahmen für eine musikalische Lesung der besonderen Art: Schriftsteller Günter Müller und der Gitarrist Frank Giese. Rund 20 Menschen hatten an diesem verregneten Sonntag Nachmittag den Weg in das seit 2016 hergerichtete Industriedenkmal gefunden. Die zweistündige Veranstaltung wurde vom städtischen Kulturbüro gefördert, die Begrüßung übernahm Peter Hoffmann-Schönborn von der Faust-Stiftung.
„Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen …“, das Horst-Wessel-Lied – die SA- und NSDAP-Hymne – sangen sie, aber auch deutsche Volkslieder und zum Jul-Fest „Stille Nacht, heilige Nacht“. Autor Müller – Jahrgang 1944 – berichtete aus dem Leben eines Mädchens vom Bund deutscher Mädel (BDM) – dem weiblichen Pendant zur Hitler-Jugend – aus Linden in der Nazizeit. In den Lesepausen setzte Frank Giese – Künstlername Mycroft – einfühlsame Akzente mit der E-Gitarre.
Wer erwartete, dass Günter Müller zur Aufklärung beitrug, warum im „roten“ Arbeiterbezirk Linden schon bald nach der Nazi-Machtergreifung Hakenkreuzfahnen das Straßenbild bestimmten, wurde bei dieser Lesung enttäuscht. Dem Autor des Buchmanuskripts „Aus der braunen Zeit im roten Linden“ ging es um den Alltag seines fiktiven BDM-Mädels und deren Freundinnen Grete, Hilde, Lore, Rosi, Thea und wie sie alle hießen in der 15-köpfigen BDM-Mädelschar.
Mit viel Liebe zum Detail erzählte der 78-jährige Müller im Kesselhaus von den Erlebnissen und Erfahrungen seiner ausgedachten Romanfiguren. Angeregt wurde er nach eigener Angabe dazu von ehemaligen BDM-Mädels, mit denen er auf einem seiner mehr als zwei Dutzend „Literarischen Erkundungsgängen“ durch Linden ins Gespräch gekommen sei: „Berichtet haben sie dabei von Heimabenden, von Straßenversammlungen, Märschen durch die Stadt Hannover und ins Calenberger Land, von Gymnastik- und Volkstanz-Vorführungen in der „Schlageter-Kampfbahn“ – wie das Lindener Stadion damals hieß -, von begeisterten und besten Freundinnen, doch auch von strammen Scharführerinnen, Petzen und Nazi-Rieken“.
Der heute weißbelockte Schriftsteller ist als Sohn eines Bäckerehepaares in der Limmerstraße 58 aufgewachsen. „Unvollständige Rückkehr an vergangene Orte“ heißen die fünf Erzählungen aus Linden, die Günter Müller als Taschenbuch in dritter Auflage 2015 herausgegeben hat. Darin beschreibt er seine Kindheit in den 1950er Jahren. Leseprobe: „Wurden wir Lindener Butjer genannt, waren wir darauf kein bisschen stolz. Jeder von uns, der so bezeichnet wurde, fühlte sich beschimpft.“