Sanierung Linden-Süd: Nachtjackenviertel wird umgekrempelt

Im April 1972 beschließt der Rat der Stadt Hannover die „Einleitung der vorbereitenden Untersuchungen“, am 12. Juni 1973 die „Förmliche Festlegung“ des Sanierungsgebiets Linden-Süd in seiner mit 38 Hektar Fläche endgültigen Form, ein erstes Teilgebiet gibt es schon seit 1972. Die Stadt selbst agiert als „Sanierungsträger“, Pläne für die Umgestaltung des Viertels zwischen Ricklinger- und Charlottenstraße mit knapp 11.000 Bewohnern hat die Bauverwaltung und deren neu geschaffene Sanierungsabteilung längst in der Schublade.

Charlottenstraße 31, 1. Mai 1975
Charlottenstraße 31, 1. Mai 1975

Eine Flächensanierung fand dank „Ölkrise“ nicht statt

Geplant sind zunächst großflächige Abrisse und 22-geschossige Metastrukturen à la Ihme-Zentrum im Bereich des zentral gelegenen Allerwegs, der überbaut und sechsspurig werden soll. Im Auftrag der Stadtverwaltung entwickelt die Baugesellschaft Neue Heimat zwischen 1969 und 1971 entsprechende „Bebauungsalternativen“. Diese Pläne erinnern an ein städtebauliches Gutachten aus dem Jahr 1957, in denen der Braunschweiger Architekturprofessor Johannes Göderitz bereits eine komplette Neubebauung des Stadtteils vorgeschlagen hatte.

Abriss Vorderhäuser Allerweg 8-12 Sommer 1980
Abriss Vorderhäuser Allerweg 8-12 Sommer 1980
Doch in der weltweiten wirtschaftlichen Depression von 1973 (sogenannte Ölkrise) schwindet das Investoreninteresse an den zuvor geplanten Megaprojekten. Zudem herrscht in der Bundesrepublik politische Aufbruchstimmung, auch in der hannoverschen Sozialdemokratie: „Wir wollen mehr Demokratie wagen“, hatte Kanzler Willy Brandt es schon 1969 in einer Regierungserklärung vorgegeben. Kein Wunder also, dass die SPD-dominierte Stadtverwaltung bereits zu Beginn der Sanierung Linden-Süd ein Konzept intensiver Bürgerbeteiligung einführte.

Aktion Wohnungsnot setzt die Stadt unter Druck

Reaktion vielleicht auch auf Proteste einer „Aktion Wohnungsnot“. Die von Aktivisten der maoistischen KPD/ML getragene Gruppe besetzt 1972/1973 in Linden-Süd mehrere Wohnungen und Häuser, um gegen Leerstand und Wohnraumvernichtung zu protestieren. Eine Kampagne gegen die Stadt und deren Sanierungspolitik. Tatsächlich sind in der Frühphase der Sanierung zahlreiche Häuser aufgekauft, entmietet und abgerissen worden. Hausbesetzungen durch Wohnungslose im Sanierungsgebiet dauern bis 1980 an.

Infofenster am besetzten Haus Ricklinger Str. 46, 3. März 1980
Infofenster am besetzten Haus Ricklinger Str. 46, 3. März 1980
Bereits am 4. Juli 1972 wird die Unabhängige Bürgerinitiative Linden-Süd (UBI) gegründet. Sie bekommt von der Stadt institutionelle Förderung in Form eines kostenlosen Tagungsraums für das wöchentliche „Dienstagsforum“. Zunächst in einem ehemaligen Ladenlokal (Ricklinger Straße 65), später dann in einem aufwendig sanierten „Bürgerhaus“, einem Fachwerkgebäude in der Großkopfstraße. Von der Stadt gestellt und gut bezahlt wird auch ein Architekturstudent als regelmäßiger Schriftführer, der seine Protokolle Woche für Woche in der Bauverwaltung abzuliefern hat.

Schließlich wird schon 1972 der Oldenburger Architekt und Stadtplaner Klaus-Jürgen Holland als „Anwaltsplaner“ eingesetzt. Sein alljährlich bis zum Ende der Sanierung verlängerter Vertrag sieht eine Beratung der UBI und der Verwaltung vor. Die Sanierungsabteilung ist zudem ständig in der Bürgerinitiative präsent. In fachkundiger und geduldiger Arbeit setzt Holland die Ideen und Wünsche der Bewohnerschaft in Konzepte und qualifizierte Alternativpläne um. Aus städtischer Planung und Gegenplanung der Unabhängigen Bürgerinitiative ergeben sich Varianten, die eine konstruktive Auseinandersetzung ermöglichen.

Bürgerinitiative mit auch fragwürdigen Tendenzen

Ausdiskutierte Lösungen werden in der paritätisch aus Bürgervertretern und Kommunalpolitikern besetzten Sanierungskommission Linden-Süd entschieden und durchlaufen anschließend die städtischen Ratsgremien. Eine Wohnungsvergabekommission unter Federführung der städtischen Sozialplaner sorgt auch für die Mitbestimmung der UBI bei der Vergabe der sanierten Wohnungen.

Die UBI trifft aber auch fragwürdige Entscheidungen. Bald stimmt hier regelmäßig eine Mehrheit für die Abrissanträge der Verwaltung, die hausweise vorgelegt werden. Motto dabei: „Weg mit den alten Klabachen!“ Zum Affront kommt es im Sommer 1978, als die Bürgerinitiative eine Arbeitsgruppe „Ausländer“ einrichtet und von der Stadt eine „Zuzugssperre“ fordert. Ein „Go-in“ vorwiegend spanischer Bürger*innen in das Dienstagsforum kann verhindern, dass diese Forderung in bei der städtischen Vergabe von Wohnungen Platz greift. Beifall gibt es damals von der rechtsextremistischen NPD, die im Stadtteil Flugblätter zum „Ausländerstopp“ verteilt.

Der Prozess der Sanierung auf der Grundlage des für solche Erneuerungsmaßnahmen 1971 in Kraft getretenen Städtebauförderungsgesetzes läuft in Linden Süd über 18 Jahre lang. Das ehemalige „Nachtjackenviertel“ wird dabei vor allem im zentralen Bereich radikal verändert. Viele zweigeschossige Arbeiterhäuser werden abgerissen und durch bis zu 4 ½ geschossige Klinkerbauten ersetzt. Neubauten werden durchweg von der städtischen Baugesellschaft GBH (heute Hanova) errichtet.

Wandbild Allerweg 2015
Wandbild Allerweg 2015

Schon im September 1985 – so eine verwaltungsinterne Bilanz – hat die Stadt 132 Grundstücke erworben, 142 Häuser oder Teile davon abgerissen und 479 Wohnungen neu gebaut, weitere 156 sind im Bau bzw. geplant. Mit städtischer Förderung werden bis dahin 515 Wohnungen in 82 Häusern modernisiert. Erst am 14. November 1990 erfolgt die Aufhebung der förmlichen Festlegung des Sanierungsgebiets Linden-Süd, 1. und 2. Abschnitt, durch Veröffentlichung im Amtsblatt für den Regierungsbezirk Hannover.

Wolfgang Becker

Bildnachweis: Wolfgang Becker