Gründung
Die Wohnungsgenossenschaft Selbsthilfe Linden wurde Anfang der 1980er-Jahre im Stadtteilsanierungsprozess in Hannover-Linden aus Stadtteilinitiativen heraus gegründet. Im März 1983 erfolgte die Eintragung beim Registergericht. Es war die erste Genossenschaftsneugründung seit 25 Jahren im Bereich Niedersachsen und Bremen. Nach diesem Modell wurden in den Folgejahren in Hannover weitere zwei Genossenschaften in den Sanierungsgebieten Vahrenheide-Sahlkamp und Nordstadt gegründet.
Ziel damals wie heute ist es, die Verdrängung der Stadtteilbewohner:innen durch Spekulation und Mietpreissteigerung zu verhindern. Vorrangig werden darum bei der Wohnungsvergabe Menschen aus dem Stadtteil mit B-Schein-Berechtigung bzw. niedrigem Einkommen berücksichtigt.
Gemeinwohlorientierung als Unternehmensziel
Gemeinwohl definiert sich über Werte. Zentral sind neben der selbstverständlichen Achtung der Menschenrechte die Werte Solidarität, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit sowie Transparenz und Mitbestimmung.
Im Wohnungssektor kommt es in erster Linie auf Solidarität an, denn bezahlbarer Wohnraum ist eine Grundbedingung solidarischer Lebensweise. Um ein preisgünstiges Wohnangebot bereitstellen zu können, ist es nötig, Wohnraum der Spekulation zu entziehen.
Tragbare Belastungen und Selbsthilfe
Um den Nutzenden der Wohnungen Zugang zu öffentlichen Sanierungsförderungen zu verschaffen, wurden vor allem in den ersten knapp 20 Jahren der Wohnungsgenossenschaft Selbsthilfe Linden eG, in denen es noch die Stadtteilsanierung gab,
- bebaute Grundstücke vorrangig mit Erbpachtverträgen von der Stadt übernommen, um Gebäude zum Restwert erwerben zu können.
- der notwendige Eigenkapitalanteil der finanzschwachen Genossenschaft durch Gruppenselbsthilfe – „Muskelhypothek als Eigenkapitalersatz“ – auf den Baustellen erbracht.
- Als Gegenleistung erhielten die Selbsthelfer:innen weitgehende Mitbestimmungsrechte bei ihrer Wohnungsplanung und Hausverwaltung sowie dauerhaft niedrige Mieten.
Solidarische Nachbarschaften
Im Jahre 2002 wurde die Wohnungsgenossenschaft Selbsthilfe Linden eG mit dem bundesweit ausgelobten Klaus-Novy-Preis geehrt. Das Thema des Wettbewerbs lautete „Vom Nebeneinander zum Miteinander“.
Die bunte Mischung von Menschen unterschiedlicher Herkunft in Linden liegt der Genossenschaft nach wie vor am Herzen. Deshalb werden in den Häusern Nachbarschaften unterstützt, die sich als Hausgemeinschaft verstehen und sich um ihre Gemeinschaftsbereiche und Freiflächen nach Möglichkeit selbst kümmern. Durch gemeinsame Aktionen und gegenseitige Unterstützung kann die Integration unterschiedlicher Alters- sowie Einkommensgruppen, Herkünfte, Haushaltsformen und Religionen am besten gelingen.
Soziale Nachhaltigkeit
Die nachhaltige Bewirtschaftung der Gebäude ist mit sozialen Mieten und einem Dauerwohnrecht gekoppelt. Eigenbedarfskündigungen sind ausgeschlossen. Gewinne werden komplett reinvestiert. Die Durchschnittsmiete liegt aktuell bei 5,90 Euro pro Quadratmeter. Wir entwickeln eine gemischte, bunte, verdichtete Stadt der kurzen Wege, mit Neubauten und Bestandssanierungen, die hohe ökologische Standards erreichen.
Wachstumsschub
Von 1984 bis 2002 wurden insgesamt 18 Gebäude mit 120 Wohnungen mit Selbsthilfe der Genossenschaftsmieter modernisiert. Ab 1986 erwarb die Genossenschaft von der Stadt Hannover 27 sogenannte Reprivatisierungshäuser. Die Stadt erfüllte damit ihre gesetzliche Verpflichtung, nach Ende der Sanierung ihren im Rahmen der Sanierung erworbenen Hausbestand wieder zu reprivatisieren. Zwischen 1996 und 1998 wurden drei Mehrfamilienhäuser im sozialen Wohnungsbau u.a. mit einer Kindertagesstätte gebaut.
Heute
Das Genossenschaftskonzept entwickelt sich weiter. Inzwischen ist die Genossenschaft auch für neue Baugruppen und bestehende Hausgemeinschaften interessant.
Gemeinschaftliche Wohnprojekte
Seit einigen Jahren wächst das Interesse an Wohnprojekten, verstanden als ein Zusammenleben von Menschen, die in guter Nachbarschaft individuell, aber auch gemeinschaftlich leben wollen.
Grundsteinlegung, „Ohe-Höfe“, 28.06.2019
Baugemeinschaften werden gegründet, um sich ihre Nachbarschaft selbst aussuchen zu können und Zugang zu Frei- oder Gemeinschaftsflächen zu bekommen. Beides ist weder im Mietwohnungsbau noch bei Bauträgerangeboten zu verwirklichen. Die Baugemeinschaften gründen sich in der Regel in einem komplizierten, langwierigen Verfahren. Sie sind damit häufig für den Grundstücksmarkt nicht schnell genug handlungsfähig. Während des Baus sind sie häufig noch als GbR konstituiert und damit hohen Haftungsrisiken ausgesetzt. In der Regel werden die Baugemeinschaften später zu Wohnungseigentümergemeinschaften, bei denen weder die Nachbelegung im Sinne der Nachbarschaft noch der Spekulationsausschluss zu regeln sind. Damit sind Konflikte und Ärger vorprogrammiert.
Hier können Genossenschaften als gemeinwohlorientierte Träger Baugemeinschaften Planungsbeteiligung und Mitbestimmung hinsichtlich Nutzung des Gebäudes und Nachbelegung anbieten. Zudem sind Genossenschaftswohnungen vor einem spekulativen Weiterverkauf dauerhaft geschützt. Auch eine Vererbung von Einlagen ohne den Eingriff in die Wohnkultur ist möglich.
Im Jahre 2021 wurden 21 Genossenschafts-Mietwohnungen in der Ohestraße für zwei Baugemeinschaften bezogen. Die Finanzierung erfolgt teilweise über Mieterdarlehen und nutzungsbezogene Genossenschaftsanteile.
Bereits 2015, als die Stadt Hannover das innerstädtisches Areal mit einer Größe von etwa 7000 Quadratmetern zur Bebauung ausschrieb, also vier Jahre vor der Grundsteinlegung, begannen die Planungen. Im Bewerbungsverfahren war die Wohnungsgenossenschaft Selbsthilfe Linden eG mit zwei Projektgruppen erfolgreich, die beide gemeinschaftliches Wohnen älterer Menschen anstrebten. Neben diesen Häusern gehören zum neuen Quartier vier weitere Wohnprojekte und zwei Mietwohnungsbauten der städtischen Baugesellschaft Hanova.
Es mussten Passivhausrichtlinien eingehalten, die Dächer begrünt, PV-Anlagen installiert und Fernwärme angeschlossen werden. Diese Anforderungen waren aus Klimaschutzgründen durchaus erwünscht. Sie wurden jedoch zu Preistreibern und in Verbindung mit weiteren Kostenbelastungen zu Hemmnissen einer solidarischen Mietgestaltung. Ein Drittel der Wohnungen ist öffentlich gefördert. Aber die Fördersumme ist angesichts der Baukosten zu gering, um die Wohnungen bei definierten Mietobergrenzen kostendeckend vermieten zu können. So ist der solidarische Ansatz eines hohen Anteils geförderter Wohnungen für die Genossenschaft auf Jahre zur Belastung geworden. Der Zielkonflikt zwischen bezahlbarem Wohnraum für breite Bevölkerungsschichten und nachhaltigen Gebäudestandards ist auch ohne die besondere Situation durch die aktuelle Inflation unverkennbar. Das Spannungsfeld der verschiedenen Anforderungen lässt nur geringen Spielraum, wenn solidarische und nachhaltige Zielvorstellungen zugleich realisiert werden sollen.
Hausgemeinschaften
Verkaufswilligen Hausbesitzer:innen, die nach dem Verkauf ihre Mieter:innen vor Mietexplosion und Vertreibung verschonen wollen, wird eine faire, transparente Übernahme mit garantierter Fortführung der bestehenden Mietverträge angeboten. Bei Nachbelegung und Hausverwaltung haben die Hausgemeinschaften individuell an ihre Bedürfnisse angepasste Mitspracherechte und übernehmen eigene Verantwortung.
Heute hat die Wohnungsgenossenschaft Selbsthilfe Linden eG insgesamt 53 Gebäude mit 378 Wohn- und 19 Gewerbeeinheiten sowie 412 Mitglieder. Die Gründung der Genossenschaft ist ein Erfolg. Er war in diesem Ausmaß aber nur möglich aufgrund der besonderen finanziellen Bedingungen eines Sanierungsgebietes und des hohen Engagements der Mitwirkenden.
Morgen
Die Exzesse auf dem privaten Wohnungsmarkt vor allem in den Städten verletzen existenzielle Grundbedürfnisse vieler Menschen und bringen sie in Not. Wohnen ist ein Menschenrecht. Wohnungsnot überwinden braucht gemeinwohlorientierte Wohnungsunternehmen und Genossenschaften als Problemlöser und Mietenbremse. Dafür braucht es eine Renaissance der Wohnungsgemeinnützigkeit.
- Sozialwohnungen, quasi als Zwischennutzung mit zeitlich befristeten Belegungs- und Mietbindungen, sind nicht nachhaltig. Öffentliche Bauförderung muss dauerhaften Nutzen zum Ziel haben. Auslaufende Sozialbindungen, die durch Wohnungsneubau ausgeglichen werden sollen – aber tatsächlich bei Weitem nicht werden, kosten auf lange Sicht der öffentlichen Hand ein Vielfaches.
- Verdichtungsreserven und Vorkaufsrechte auf innerstädtischen Grundstücken können im Rahmen des Stadtumbaus durch Stadtteilentwicklungskonzepte, Sanierungsgebiete, Satzungsgebiete, städtebauliche Verträge sowie Auflagen bei Neuaufstellung von Bebauungsplänen genutzt werden. Dies zeigen positive Beispiele aus Frankfurt, Ulm, Münster, Berlin u.a. Die Weitergabe der so gewonnenen Grundstücke sollte auf Grundlage von Konzeptausschreibungen an gemeinwohlorientierte Unternehmen erfolgen. Diese sollen nicht in der Frage des Preises, sondern bei Art und Umfang sozialer Bindungen miteinander konkurrieren. Die Übertragung sollte auf Grundlage von Erbpachtverträgen erfolgen, die dauerhafte soziale Bindungen ermöglichen.
- Im Koalitionsvertrag der Ampel heißt es: „Wir werden zeitnah eine neue Wohngemeinnützigkeit mit steuerlicher Förderung und Investitionszulagen auf den Weg bringen und so eine neue Dynamik in den Bau und die dauerhafte Sozialbindung bezahlbaren Wohnraums erzeugen.“ Sobald dieses Wahlversprechen umgesetzt ist, können sich kommunale Unternehmen und „gemeinwohlorientierte“ Genossenschaften rechtlich wieder in „gemeinnützige“ umwandeln und so neue finanzielle Handlungsmöglichkeiten gewinnen.
- Um als Partnerin und Akteurin der Stadtentwicklung stärker wahrgenommen zu werden und einen gemeinwohlorientierten Wohnungssektor aufzubauen, gibt es eine Kooperation im Rahmen von Immovielien-Hannover mit anderen gleich gesinnten Genossenschaften und Stiftungen.
Wohnungsgemeinnützigkeit
Von bis 1851 bis 1989 gab es in Deutschland eine gemeinnützige Wohnungswirtschaft, die preiswerten Wohnraum für eine breite Schicht der Bevölkerung schuf und erhielt. Als gemeinnützig galten Wohnungsunternehmen, die sich auf Gewinnbegrenzung auf 4 Prozent, Zweckbindung der Mittel, Bauverpflichtung, Begrenzung auf Kostenmiete und eine Geschäftsfeldbegrenzung auf Kleinwohnungen bis 120 Quadratmeter verpflichteten. Dafür, dass sie preisgünstigen Wohnraum bereitstellten, erhielten sie dauerhafte Steuerbefreiungen bei Körperschafts-, Gewerbe-, Grund- und Grunderwerbsteuer. Hierbei gilt das Prinzip: Einmal gefördert, immer sozial gebunden.
Sie unterscheiden sich vom Sozialen Wohnungsbau, der durch Darlehen oder Aufwendungszuschüsse gefördert wird, die zeitlich begrenzt sind. Miet- und Belegungsbindungen entfallen also beispielsweise nach 10 oder 20 Jahren.
Den Skandal um die Neue Heimat nahm die damalige CDU-FDP-Koalition unter Helmut Kohl als Vorwand, das Wohnungsgemeinnützigkeits-Gesetz zum 31. Dezember 1989 aufzuheben. Damit verloren etwa 1800 gemeinnützige Wohnungsbauunternehmen ihre Steuerprivilegien und der Wohnungsmarkt kam ins Rutschen.
In der Folge privatisierten viele Kommunen ihren Wohnungsbestand. Und Jahr für Jahr schrumpfte der Bestand an Sozialwohnungen: Von 3,9 Millionen Sozialwohnungen im Jahr 1989 sind derzeit nur noch etwa 1,1 Million übrig. Seitdem gehören immer mehr Wohnungsunternehmen großen Finanzinvestoren. Somit haben wir heute einen überwiegend profitorientierten Wohnungsmarkt. Nur die meisten Genossenschaften und verbliebene kommunale Wohnungsgesellschaften machen da noch Ausnahmen. Da die private Wohnungswirtschaft überwiegend hochpreisige Wohnungen baut, trägt Neubau wenig zur Minderung der Wohnungsnot bei. Und ebenfalls kein Wunder: Gleichzeitig stiegen und steigen die Kosten für Wohngeld und Kosten der Unterkunft rasant.
Autor: Ernst Barkhoff, Günther Baumert (Mitglieder im Aufsichtsrat der WSL)