„Das Projekt war ein Erfolg“, sagt Ulrich Prote, Leiter des Fachbereichs Umwelt und Stadtgrün, und führt weiter aus: „Alle zehn Wildnisflächen in Hannover wurden ökologisch aufgewertet, indem so viel wie nötig und so wenig wie möglich in das Gelände eingriffen wurde. Profitiert haben davon in Hannover selten vorkommende Pflanzenarten, wie die Gelbe Wiesenraute (Thalictrum flavum) und der Große Eichenbock (Cerambyx cerdo). Auch die entlang der Fösse natürlich vorkommende Strand-Aster (Tripolium pannonicum) hat sich durch die Wildnis-Maßnahmen weiterentwickeln können.“
Unterschiedliche Nutzungs- und Pflegeintensitäten erprobt
An dem Verbundprojekt sind neben der niedersächsischen Landeshauptstadt die Städte Frankfurt am Main und Dessau-Roßlau beteiligt. In Hannover wurde die Stadtwildnis insbesondere in ausgewählten Grünzügen am Messeschnellweg, in Linden (Lindener Berg), entlang der Fösse in Badenstedt und parallel zum Laher Friedhof entwickelt. Seit dem Projektbeginn im Jahr 2016 hat die Stadtverwaltung auf den Flächen ein Baukastensystem aus unterschiedlichen Nutzungs- und Pflegeintensitäten erprobt, das zukünftig durch eine extensive und differenzierte Grünflächenpflege für verschiedene Pflanzen- und Tierarten eine Lebensgrundlage in der Stadt bieten soll. Gleichzeitig wurden Ansprüche der Stadtbevölkerung an die optische Ästhetik der Flächen und des Stadtbildes sowie Sicherheitserfordernisse – etwa die uneingeschränkte Nutzung von Wegen – berücksichtigt. Im Sinne von Naturerlebnisräumen gilt auf diesen Flächen ausdrücklich: „Betreten erwünscht“. Darüber hinaus entstanden im Rahmen des Projekts weitere „Wildnis-Gebiete“ in der Eilenriede, in Stöcken, in Vahrenwald und in Mittelfeld, die ebenfalls nach dem neu entwickelten Pflegekonzept bewirtschaftet werden.
„Grünflächen in urbanen Räumen sind mittlerweile zu wertvollen Lebensräumen vieler Arten geworden. Der Erhalt und die Förderung der biologischen Vielfalt ist hier eine große Herausforderung für den Naturschutz“, betont Ulrich Prote. „Insbesondere der Rückgang von Insekten in den vergangenen Jahren hat schwerwiegende Folgen. Pflanzen, Tiere und Lebensräume haben durch den hohen Nutzungsdruck und die intensive Grünflächenpflege in Städten oft einen schweren Stand. Auf den neuen Wildnisflächen, die auch in Zukunft erhalten und gefördert werden, dürfen sich die Pflanzen und Tiere frei entwickeln.“
Wildnis im Kleingarten
Ein Schwerpunkt des Projektes „Städte wagen Wildnis“ war der ökologische Kleingartenpark „Im Othfelde“, der derzeit noch in Vahrenwald entsteht. Die Anlage soll Gartennutzung mit Wildnis-Aspekten verbinden. Im Rahmen des bis Ende 2023 angesetzten Bauvorhabens werden dort natürlich belassene Gemeinschaftsflächen mit speziellen wilden Elementen wie Totholzecken, Blühstreifen aus regionalen Wildpflanzen und Erd- und Steinhaufen aufgewertet. Teile des ersten Bauabschnittes werden bereits im ersten Quartal 2022 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Außerdem bleiben zahlreiche große und alte Bäume, wie beispielsweise die Walnuss (Juglans regia), die in Kleingärten normalerweise nicht erwünscht sind, auf den Flächen erhalten. Durch Schulungen und Informationsmaterialien werden die künftigen Kleingarten-Pächter*innen für den Umgang mit den Flächen sensibilisiert. Menschen, die sich für einen Kleingarten interessieren, können sich im Fachbereich Umwelt und Stadtgrün unter der Mailadresse staedte-wagen-wildnis@hannover-stadt.de melden.
Wissenschaftliche Begleitung
In dem Projektverbund ist Hannover gemeinsam mit den Städten Frankfurt am Main und Dessau-Roßlau neue Wege gegangen, um im Stadtgebiet mehr Wildnis zu schaffen und in der Bevölkerung mehr Akzeptanz für das Thema urbane Wildnis zu erzielen. Trotz oder gerade wegen der großen Unterschiede der Projektflächen in den Städten, in Bezug auf ihre Lage und Verfügbarkeit, ließ sich erproben, unter welchen Bedingungen sich Stadtwildnis entwickelt und auf welche Weise derartige Flächen zukünftig auch in anderen Kommunen angelegt werden können.
Als im Sommer 2016 das Verbundprojekt „Städte wagen Wildnis“ startete, konnten die Verbundpartner*innen noch nicht absehen, wie sich die Stadtwildnis in den teilnehmenden Städten entwickeln würde und ob ein derartiges Projekt von den Einwohner*innen einer Stadt toleriert und unterstützt wird. Es stellte sich die Frage, wie viel Wildnis in der Stadt überhaupt möglich ist und wie Stadtwildnis im begrenzten urbanen Raum umsetzbar ist.
Durch die Zusammenarbeit mit drei wissenschaftlichen Partner*innen konnte mit dem Wildnis-Projekt auch die Datengrundlage für die Stadtnatur verbessert werden. Die Ergebnisse der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung in Frankfurt, der Leibniz Universität Hannover und der Hochschule Anhalt in Köthen zeigen, wie sich die Natur auf den Flächen frei entwickelt hat und wie die Akzeptanz für die neu entstehende „Wildnis“ im Laufe der Jahre in den Städten anstieg.
Assel als Markenzeichen
Um die Menschen in Hannover für die Wildnisflächen zu sensibilisieren, setzte das Projekt auf ein eigenes „Markenzeichen“, die orangefarbene „Wildnis-Assel“. Auf zweieinhalb Meter hohen Holzstelen „wachen“ die Wildnis-Asseln auch zukünftig immer paarweise über die Projektflächen in der Stadt und ziehen so auch von Weitem die Blicke auf sich und damit auf die Wildnis.
Darüber hinaus zeichnen sich laut Prote bereits jetzt viele positive Entwicklungen auf weiteren städtischen Grünflächen ab, die durch das Projekt angestoßen wurden und auch nach Projektende weiterverfolgt werden. Er verweist beispielsweise auf die stadtweit noch ökologischer ausgerichtete Flächenpflege und auf das „Insektenbündnis“.
„Das Wagnis Wildnis hat sich gelohnt: für die Natur und für die Menschen im urbanen Raum“, bilanziert Ulrich Prote. „Wilde Stadtnatur funktioniert immer nur zusammen mit den Menschen, die in den Städten wohnen. Mit dem Projekt ‚Städte wagen Wildnis‘ wurde ein Perspektivwechsel eingeleitet: vom negativ besetzten ‚ungewünschten Wildwuchs‘ hin zu einer positiv besetzten ‚Stadtwildnis‘ – einem Naturraum für Gesundheit und Erholung, der besonders in Zeiten des Klimawandels auch in Zukunft für Menschen, Tiere und Pflanzen einen sicheren Rückzugsort bieten wird.“
„Städte wagen Wildnis“ – Kurzinformationen
Seit Frühjahr 2016 lief das Projekt „Städte wagen Wildnis – Vielfalt erleben“ in den drei Projektpartnerstädten Hannover, Frankfurt und Dessau-Roßlau. Ziel des Vorhabens war, auf unterschiedlichen Projektflächen die Artenvielfalt im städtischen Raum zu erhöhen. In Hannover gehörten zum Beispiel die Grünzüge Lindener Berg und Fösse zu den „Wildnisgebieten“. Verschiedene Maßnahmen, wie extensive Beweidung mit Rindern und Schafen, ein spezialisiertes Mahdkonzept und Umweltbildungsaktionen wurden auf den Flächen erprobt, um am Projektende im Jahr 2021 einen Leitfaden erstellen zu können, der anderen Kommunen bei der „Wildnisentwicklung“ unterstützt.
Die Projektausgaben für die Umsetzung der Maßnahmen für „Städte wagen Wildnis“ lagen in Hannover bei insgesamt 1.348.000 Euro. Davon kamen 964.999 Euro Fördermittel vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU) und vom Bundesamt für Naturschutz (BfN). Der Eigenanteil der Landeshauptstadt Hannover lag bei 384.000 Euro. Die Veränderungen auf den Flächen wurden regelmäßig durch die Leibniz Universität Hannover wissenschaftlich untersucht und ausgewertet.
Das Projekt fügt sich in die seit 2009 entwickelte kommunale Biodiversitätsstrategie ein, die die Landeshauptstadt seit Jahren erfolgreich verfolgt. Schon im Jahr 2011 erhielt die Stadt im Rahmen eines Wettbewerbs die Auszeichnung „Bundeshauptstadt der Biodiversität“ und ist zudem seit 2012 Mitglied im Bündnis „Kommunen für biologische Vielfalt“. Das Programm „Mehr Natur in der Stadt“ zur Verbesserung der biologischen Vielfalt wird kontinuierlich fortgeschrieben, sodass auch nach dem Projektende von „Städte wagen Wildnis“ die Stadtwildnis in Hannover erhalten und weiterentwickelt wird.