Wie immer mit neuen Geschichten von Lindemann & Stroganow:
Wie lange noch, Angela, wirst du unsere Geduld missbrauchen?
von Kersten Flenter
Wenn ich morgens noch bettnackt in die Küche zum Kaffee kochen gehe und die nette Dachdeckerin auf dem Gerüst am Haus gegenüber durchs offene Fenster hinguckt – na und? Ich hab schließlich körperlich genauso wenig zu verbergen wie geistig. Für die Zurschaustellung meiner politisch-sozialen Haltung gibt es hinreichend industrielle Ausdrucksmöglichkeiten, Buttons, T-Shirts, Facebook und so. Eine Kreditkarte besitze ich nicht, mein Konto ist leer und eine private Altersvorsorge, um die man mich behumsen könnte, habe ich schon mal aus Prinzip nicht. Von mir aus kann jeder alles von mir wissen, ich habe nichts zu verbergen.
Ich verstehe die Aufregung nicht, die jetzt gemacht wird um Prism und Tempora, und wer weiß wie die Spionageprogramme der anderen Geheimdienste heißen. Da regen sich Journalisten auf, die doch allein von ihrer Profession her die Privatsphäre anderer Menschen missachten müssen. Schon skurril. „O tempora, o mores!“, zitiert Stroganow. „Cicero“, weiß Mittelschmidt, die akademische Schlaubirne. So beklagte der alte Römer den Verfall der Sitten. Sein Nachfahre Berlusconi würde sowas nie sagen. Aber Stroganow kennt noch ein anderes schönes Zitat aus Ciceros erster Catilinischer Rede: „Wenn du abziehst, wozu ich dich schon lange auffordere, wird auch die große und gefährliche Menge politischer Jauche deiner Genossen aus der Stadt herausgespült werden.“ „Das klingt gut“, sage ich, „aber wie konnte er damals schon die Merkel ansprechen? Die gab’s doch da noch gar nicht.“ Stroganow seufzt. „Merkel ist doch Firlefanz. Nimmt doch keiner ernst.“ „Eben, eben“, sage ich. „Deshalb kann sie auch herumblödeln, wir bräuchten eine marktfähige Demokratie, und kaum einer regt sich darüber auf.“ Dabei steckt in diesem Satz das gesamte Programm der neoliberalen Verbrecher an der Zukunft – man will das komplette menschliche Leben verökonomisieren. Wissen statt Unterscheidungsvermögen, Effizienz statt Achtsamkeit, Wachstum statt Gemeinschaftlichkeit. Schröder war der Genosse der Bosse, Merkel ist die Schlampe der Banken und Energiekonzerne.
„Ich hätte es nie gedacht, aber ich bin jetzt tatsächlich soweit, dass ich Wählen für nutzlos halte“, seufze ich. „Nicht das Wählen ist nutzlos, du Holzkopf“, erklärt Stroganow, „die parlamentarische Demokratie in unserer Form ist es: wir haben eine apokalyptische Form der Rätedemokratie, denn im Parlament sitzen nur Abgeordnete verschiedener Interessensgruppen. Leider sind diese nicht Vertreter gesellschaftlicher, sondern ökonomischer Interessen, und ihre Interessen bestehen darin, zu legalisieren, was sie für legitim halten. Deshalb ist unser Parlamentarismus tot, Politiker sind nur noch interessant für die Medien. „Und für die NSA“, sagt Mittelschmidt, und Stroganow und ich schreien gleichzeitig: „Halt die Klappe!“
Allen die rote Karte!
Von Hans-Jörg Hennecke
Und Linden wird 900, was sagen Sie nun, liebe Oma Kasten?“ Lindemann war voller Hochstimmung, die an Oma Kasten merkwürdig abprallte. „Meine Schwägerin wird 90, die kann kaum noch krauchen, hat überall Zipperlein und wird nun auch noch komisch im Kopf. Was erwarten Sie von 900?“ ‚Das Zehnfache‘, wollte sein Buchhalterhirn spontan antworten, doch er enthielt sich klugerweise der Stimme. Denn Nachbar Stokelfranz stürmte die Treppe herab. „Linden ist doch auch kaputt. Die Beton-Festung an der Ihme steht für eine Spur des Verfalls quer durch neun Jahrhunderte. Wollen Sie das feiern?“ Lindemann wurde mutig. „Das ist Patina“, bemerkte er bestimmt. „Zeichen des Alters, Zeichen der Reife, Zeichen der Veredelung.“
Stokelfranz schüttelte verächtlich den Kopf. „Unsere Jugend hat überhaupt kein Verständnis für das Alte und die Alten. Mein Neffe zeigt dem Goethe einen Vogel, weil der seine Italienreise mit der Postkutsche gemacht hat und nicht mit einem Billig-Ticket von Ryan-Air.“
Oma Kasten fuchtelte wild mit der Handtasche. „So blöd sind wir Alten gar nicht. Alle haben über meinen Sparstrumpf gelacht und gedrängt, ich soll das Geld zur Bank bringen. Sagen Sie das mal den Leuten auf Zypern. Geld bei der Bank, Geld weg. Geld im Strumpf, Geld da.“
Lindemann atmete tief durch. „Manches haben wir aber auch überwunden, und das ist gut so.“ „Was denn“, fragte Stokelfranz spitz. Lindemann zählte an seinen Fingern herunter: „ Sockenhalter, Rechenschieber, Nylonhemden, Sonntagsfahrverbote, Benzin- Feuerzeuge, Schallplatten, Dampfschiffe, Rohrstöcke, Schönschrift, Tanzstunde – wollen sie noch mehr?“ Stokelfranz winkte mit Leidensmiene ab. Lindemann hatte Oberwasser. „In dieser Zeit muss man die Frage nach dem Sinn des Lebens stellen.“ Stokelfranz hakte ein. „In welcher Zeit? Meinen Sie diese fußballlose Zeit, die das Leben vergällt und den Fernseher entbehrlich macht?“ Lindemann widersprach. „Sie sollten ein gutes Buch lesen.“ „Ach nee“, zischte der Nachbar, „als ich mal Harry Potter im Internet bestellt habe, wurde das verwechselt. Ich bekam das Telefonbuch von Castrop-Rauxel. Das ist kein Bestseller. Soweit zum Thema ‚gutes’ Buch.“ „Der Sinn des Lebens sitzt tiefer“, beharrte Lindemann. „Ja“, bestätigte Stokelfranz, „der Sinn des Lebens ist ein rollender Ball, der im äußersten Glücksfall den Weg in ein gegnerisches Balkenviereck mit aufgespanntem Netz findet. Mein Verein, mein Leben – welch eine Wonne, welch ein Glücksgefühl.“ Lindemann schüttelte den Kopf. „Nee, nee, nee. Mein Kiez ist mein Glück.“ Stokelfranz staunte und fragte mit kindlicher Naivität: „Ehrlich?“ Oma Kasten verblüffte nun mit einem Glaubensbekenntnis, das gar nicht von ihr stammen konnte: „Ich glaube, ich stehe im passiven Abseits.“ Lindemann ließ sich nicht beirren. Er suchte Kraft in der unheimlichen Macht des Fußballs. „Mein Kiez ist rund und das Spiel dauert 900 Jahre.“ Oma Kasten verlor nun ganz den Überblick. „Meine Schwägerin wird 90 und ist schon ganz komisch im Kopf.“ Stokelfranz wandte sich mit Grausen. „Man sollte allen die rote Karte zeigen.“ Nun ja, so sind sie, die Leute.