Leserbrief zum Artikel „Land fördert nur Hochflurbahn!“ in der HAZ

Dass eine Förderung einer unwirtschaftlichen Variante« nicht in Frage komme, kann man noch akzeptieren. Aber die billigere ist nicht immer die wirtschaftlichere und erst recht nicht die insgesamt bessere Lösung, wenn weitere zu bewertenden Kriterien hinzukommen. So sagen es sinngemäß wohl auch die Haushaltsordnungen der öffentlichen Verwaltungen.

Zunächst sind an der Höhe der bisher ermittelten Mehrkosten des Niederflur-Systems erhebliche Zweifel angebracht, wie verschiedene Stellungnahmen bereits aufgezeigt haben.

Zweitens sind an weiteren Kriterien vor allem die bauliche und funktionale Einpassung in die Stadt, die Zukunftstauglichkeit und eine variable Ausbaufähigkeit eines Streckennetzes relevant.

Niederflur(NF)-Stadtbahnsysteme haben sich europaweit und darüber hinaus bewährt. Sie lassen sich baulich, stadtfunktional und nutzerfreundlich in fast alle Stadtstraßen einfügen. Anders als in Hannover von einzelnen Stellen verbreitet, unterscheiden sich die Haltestellen fundamental von Hochbahnsteigen. Wie man in der hannoverschen Partnerstadt Leipzig und vielen anderen Städten erleben kann, gleichen die Haltestellen einem Bürgersteig, dessen Bordstein um wenige Zentimeter erhöht ist (in Leipzig auf 20 cm Bordhöhe über der Schiene). Nur Stuttgart und Hannover halten noch an Hochflur (HF)-Fahrzeugen und hohen Bodensteigen fest. Alle anderen deutschen Stadtbahnstädte betreiben ganz oder zu wesentlichen Teilen NF-Systeme (Prof. Dr. Schnüll, Dr. R. Menke).

Dass es städtebaulich und stadtfunktional nicht vertretbar ist, z. B.in der Limmerstraße HF-Bahnsteige einzubauen, wurde durch die vergleichende Untersuchung der Region bestätigt. Die vorgesehene HF-Haltestelle Küchengarten wurde aus der Limmerstraße herausgenommen und in Richtung Heizkraftwerk verlegt. Statt wiederzeit auf einem lebendigen Bürgersteig vor den Ladengeschäften gerne einige Minuten auf die nächste Bahn zu warten, würden zukünftig Fahrgäste auf einem Hochbahnsteig im ,,Niemandsland“ hauptsächlich vorbeifahrenden Autos zuschauen können.

Die Haltestelle Ungerstraße soll bei der HF-Variante ebenfalls an den Rand von Linden-Nord verschoben werden. Ihr räumlicher Einzugsbereich würde dann zu einem beträchtlichen Teil nicht Lindener Wohngebiet, sondern Flächen der Westtangente einschließlich Begleitgrün »erschließen«.

Die Lage der drei derzeitigen Haltestellen von Linden-Nord wurde nicht ohne Grund von der ÜSTRA vor Jahren so gewählt. Sie erschließen Linden-Nord optimal sowie den Nordrand von Linden-Mitte (Rampenstraße, Ihme-Zentrum). Sie liegen außerdem in den für Fahrgäste interessantesten Straßenabschnitten aufgrund der baulichen Nutzungen. Ein Aufgeben dieser stadtfunktionalen und nutzerfreundlichen Optimierung bei der HF-Variante ist m. E. nur als fachliche »Blindheit« einzuordnen.

Es würde nicht ohne Folgen bleiben. Aus der Verkehrsforschung kennen wir den Zusammenhang zwischen der Gehweglänge zur Haltestelle und der Häufigkeit der Bahnbenutzung. Ab etwa 300 Meter Distanz fällt die Nutzungsfähigkeit ziemlich steil ab. Insbesondere durch die Vergrößerung des Abstands der Haltestellen Küchengarten und Pfarrlandstraße (heute Leinaustraße) bei der HF-Variante auf ca.640 Meter (derzeit knapp 500 m) würden nicht unerhebliche Gebietsteile mit dichter Bebauung deutlich schlechter erschlossen,insbesondere in den Bereichen Fössestraße/Viktoriastraße und Albertstraße/Ottenstraße. Den voraussichtlichen Fahrgastverlust schätzte ich auf mindestens 5 bis 10 Prozent. Bei der NF-Variante besteht dagegen keine Notwendigkeit, die derzeitige Lage der Haltestellen zu verändern.

Die beiden Haltestellen (Küchengarten und Leinaustraße) haben ein werktägliches Fahrgastaufkommen von zusammen 14.200 (Stand 2008) und von ca. 4,2 Millionen im Jahr. Ein voraussichtlicher Fahrgastverlust von 5 bis 10 Prozent hätte dann eine Fahrgeldmindereinnahme von ca.200.000 bis 400.000 € im Jahr zur Folge (statistisch durchschnittliche Fahrgeldeinnahme pro Fahrgast 1,0 bis 1,2 €). Das relativiert bereits die angeblichen Mehrkosten der NF-Variante für NF-Fahrzeuge und Werkstattausstattung.

Drittens geht es nicht darum, das bestehende und an Tunnelstrecken gebundene HF-System in Frage zu stellen, sondern um eine sinnvolle Ergänzung durch eine innerstädtisches oberirdisches Netz, das in NF-Technik allemal stadtverträglicher zu realisieren ist. Eine solche Ergänzung ist sinnvoll, wenn sie ausbaufähig ist und dafür zukünftig weiterer Bedarf bestehen wird.

Dies wird voraussichtlich der Fall sein. Klimaschutz und Energiekonversion werden gravierende Veränderungen erfordern. Bahn, Bus und Fahrrad werden größere Verkehrsanteile zur übernehmen haben. Für die städtebauliche Entwicklung ist eine Tendenz zur Binnenentwicklung mit Umnutzungen, Umbauten und Nachverdichtungen wahrscheinlich. Auf solche und weitere mögliche Entwicklungen kann ein oberirdisches Bahnnetz in NF-Technik flexibel reagieren und dabei noch zwei zusätzliche Aufgaben erfüllen.

Es kann Tunnelstrecken entlasten, die bei zukünftiger Fahrplanverdichtung schon bald an Kapazitätsgrenzen stoßen werden. Es kann die Betriebswirtschaftlichkeit der ÜSTRA erhöhen, wenn zukünftig ausgewählte überlastete Buslinien auf NF-Bahnbetrieb umgestellt werden können.

Zukunftsorientierte Planung hält solche Optionen durch eine Entscheidung für NF-Technikals ergänzendes Netz offen anstatt sie durch eine Entscheidung für HF-Technik zu verbauen.

Dr.-Ing.Dieter Apel VCD, SRL
17. April 2012