Offener Brief zum Thema: „Weichenstellung – Die Zukunft der Tram“

An die Teilnehmer der Podiumsdiskussion „Die moderne Tram – eine Chance für Hannovers Mobilität von morgen“

Uwe Bodemann, Stadtbaurat der LH Hannover
Michael Braum, Bundesstiftung Baukultur Potsdam
Ulf-Birger Franz, Dezernent für Wirtschaft der Region Hannover
Cay Lienau. Verkehrsclub Deutschland
Andre Neiß, Vorstandsvorsitzender der ÜSTRA

Sehr geehrte Herren,

zur Podiumsdiskussion am 02.11.2011 in der Remise der ÜSTRA hatte ich einen Diskussionsbeitrag vorbereitet, den ich aber im Kampf der Anwesenden um die Berücksichtigung ihrer Wortmeldung – allein schon aufgrund seiner Länge nicht vortragen konnte.

Da die fachliche und politische Meinungsbildung zum Entwurfsstandard der Stadtbahnlinien 10 und 17 aber noch nicht abgeschlossen ist und ich die „Weichenstellung“ in einem zeitlich sehr weit in die Zukunft gerichteten Rahmen sehe, schicke ich Ihnen als maßgebenden Akteuren meine Argumentationskette in der Anlage in schriftlicher Form mit der Bitte um inhaltlicher Prüfung.

Für Rückfragen, Gegenargumente und zusätzliche Erläuterungen stehe ich auf Wunsch selbstverständlich zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüßen
Dr.-Ing. Robert Schnüll
Univ.-Prof. a. D.

Argumentationskette zur Vervollständigung des Nahverkehrssystems in der Region Hannover

(Beitrag zur Podiumsdiskussion am 02.11.2011 im Rahmen der Reihe „Weichenstellung- Die Zukunft der Tram“ von AG Stadtleben, BIU, VCD und SRL)

1. Vorbemerkungen

Die Legitimation mich zu diesem Problem zu äußern, begründe ich mit folgenden Fakten:

  • mehr als 15 Jahre Nahverkehrsforschung an der Universität Hannover für das BVMBS,
  • maßgebende Mitarbeit an den deutschen Entwurfsrichtlinien für Nahverkehrsanlagen in Straßen- und Platzräumen,
  • mehrjähriger Kampf für eine sachgerechte Förderung von Nahverkehrsanlagen nach dem GVFG, insbesondere durch den Ersatz der maßnahmenorientierten Förderung (z.B. der besondere Bahnkörper als Fördervoraussetzung) durch eine zielorientierte Förderung (Nachweis einer bestimmten Beförderungsgeschwindigkeit als Fördervoraussetzung
  • Nahverkehrsgutachten für die Städte Berlin, Bremen, Dresden, Leipzig, Erfurt, Jena, Kassel u.a. im Rahmen der Ingenieurgemeinschaft Schnüll Haller und Partner.

Meine Grundposition zum hannoverschen Nahverkehrssystem ist in der Festschrift zum 100. Geburtstag von Rudolf Hillebrecht dokumentiert, in der ich unter dem Titel „Verkehrsplanung beim Aufbau Hannovers – Versuch einer Evaluation nach 60 Jahren“ zu folgendem Fazit gekommen bin. Ich zitiere: „Die mit dem Aufbau Hannovers entstandenen und von Rudolf Hillebrecht maßgeblich mitentwickelten städtischen und regionalen Verkehrssysteme haben sich durch ihre Maßstäblichkeit ihre Flexibilität und durch rechtzeitiges Umsteuern zu Systemen der „reinen Lehre“ für eine Region von ca. 2 Mio, Einwohnern mit einer Kernstadt von 500.000 Einwohnern weiterentwickelt. – Der Versuch einer Evaluation nach 60 Jahren ist zu einer beeindruckenden Laudatio geraten, denn die Region Hannover hat ein ausgewogenes Hauptverkehrsstraßennetz ohne bauliche Übertreibungen und ein international anerkanntes Nahverkehrskonzept, das – mit Ausnahme der Grundsatzentscheidung für die Beibehaltung der Hochflurtechnik – für eine monozentrale Siedlungsstruktur mit 1 bis 2 Mio. ideal und wegweisend ist.“ Ende des Zitates.

2. Forschungsergebnisseund Empfehlungen

Zur Verkehrsqualität denkbarer Bauformen für Stadtbahnstrecken (dynamische Straßenraumfreigabe mit Pulkspitzensteuerung, straßenbündige, besondere und unabhängige Bahnkörper) liegen nach mehr als 15 Jahren Nahverkehrsforschung alle erforderlichen Erkenntnisse vor. Deshalb kann künftig der Austausch von Scheinargumenten, die nur der Untermauerung der eigenen Meinung dienen und einer objektiven Überprüfung in den meisten Fällen nicht standhalten, bei der bevorstehenden politischen Entscheidungsfindung unterbleiben. (Dieses Bemühen war allerdings bei der Podiumsdiskussion noch nicht deutlich genug erkennbar.)

Wie in vielen anderen Städten sollten die neuen Erkenntnisse auch in Hannover zur Kenntnis genommen und angewendet worden.

Hinsichtlich der Förderung nach dem GVFG sollte die Landesnahverkehrsgesellschaft veranlasst werden, von der (historischen) maßnahmenorientierten Förderung unter Beachtung der obigen Forschungsergebnisse und der Erfahrungen aus anderen Städten zur (einzelfallbezogenen) zielorientierten Förderung überzugehen. Unabhängig davon liegt es im Landesermessen, auf besondere Bahnkörper als Fördervoraussetzung zu verzichten, da es sich nicht um Bundesmaßnahmen handelt.

Die Grundsatzentscheidung für die Hochflurtechnik ist nach den heiß umkämpften Diskussionen zu Beginn der 1990er Jahre für die Stammstrecken A, Bund C und ihre Verlängerungen irreversibel. Man sollte dieses Thema deshalb auch nicht mehr diskutieren und auf den Stammstrecken das Hochbahnsteigprogramm weiterführen.

Die Entscheidung für oder gegen den Bau des Tunnels im Zuge der D-Strecke ist nicht systemrelevant und sowohl in Niederflurtechnik als auch in Kochflurtechnik möglich. Da sich die verkehrslichen Vor- und Nachteile aufheben (Erschließungsqualität versus Beförderungsgeschwindigkeit) werden vorrangig die großen Baukostendifferenzen entscheidungsrelevant sein, denn man kann mit eingesparten Tunnelstrecken bekanntlich das mehrfache an oberirdischen Streckenführungen finanzieren und trotzdem Straßen- und Platzräume mit städtebaulich behutsam integrierten Nahverkehrssanlagen schaffen. Man könnte sich daher im Rahmen der bevorstehenden „Weichenstellung“ für eine oberirdische Führung der Linien 10 und 17 entscheiden und die trotzdem denkbare Nachrüstung mit Tunnelstrecken künftigen Generationen überlassen.

3. Niederflursystem als 3. Schienenverkehrssystem der Region Hannover

Die bisherigen Diskussionen über die Einführung von Niederflurfahrzeugen in der Region Hannover kranken daran das sie räumlich ganz eng begrenzt auf die Linie 10 mit der Limmerstraße, der Kurt-Schumacher-Straße und der Lister Meile [Bahnhoftunnel) geführt wurden. Kein Aufgabenträger und kein Verkehrsbetrieb wird aber bereit sein, die Folgekosten eines 3. Systems für Fahrzeuge und Betriebsanlagen zu tragen, wenn nur eine einzige Linie und ein kleiner Fahrzeugpark in der Diskussion sind.

Die wesentlichste zeitnahe Grundsatzentscheidung im Sinne einer „Weichenstellung“ betrifft daher die Frage, ob die Region Hannover mit Blick auf die Entwicklungen der nächsten Jahrzehnte und auf kommende Generationen für die Netzverdichtung und für die Feinerschließung zwischen den hochflurigen Stadtbahnachsen ein 3. Schienenverkehrssystem einführen will, wie Berlin, München, Frankfurt und Köln das zielorientiert getan haben,

4. Vision für eine Linie 17 mit Niederflurfahrzeugen

Um sich für oder gegen ein Niederflursystem entscheiden zu können, müssten neben den Verlängerungen Sallstraße und Zoo weitere dankbare Streckenführungen auf Machbarkeit und Zweckmäßigkeit überprüft werden.

Nachfolgend wird am Beispiel der Linie 17 gezeigt, dass dabei der gesamte räumliche Wirkungsbereich einzubeziehen ist und nicht nur wenige Teilbereiche.

Teilbereich Aegi

  • Der Hochbahnsteig müsste zu einer Niederflurhaltestelle zurückgebaut werden.
  • Die in früheren Jahren schon mehrfach untersuchte Weiterführung der Linie 17 zum Rathaus wäre möglich, ohne die Leistungsfähigkeit des Aegis zu verschlechtern und ohne auf die sonstigen Funktionen des Mittelstreifens vor dem Rathaus (Marathon, autofreier Sonntag u.a.) verzichten zu müssen (analog zur heutigen Busführung).

Teilstrecke Aegi – Hauptbahnhof – Steintor – Goetheplatz – Schwarzer Bär

Teilstrecke Schwarzer Bär – Hanomaggelände – OBI

  • Linienführung etwa analog der derzeitigen Regionalbuslinie 300 durch die verkehrlich abgewertete und gestalterisch aufgewertete Deisterstraße über den Deisterkreisel (parallel zur Radfahrersignalisierung durch die Hanomagstraße ins revitalisierte Hanomag-Areal.
  • Unterstützung der Geschäftsbelebungsaktivitäten in der Deisterstraße.
  • Fahrgastpotentiale aus der angrenzenden Wohnbebauung, aus dem Ahrberg-Viertel dem Hanomag- Areal, dem Komatsugelände und den Baumärkten, die langfristig auch nicht das letzte Wort einer stadtnahen Besiedlung sein müssen.
  • Aufwertungsmöglichkeiten für das ganze Hanomag-Gelände.
  • Durchstich von OBI zur Göttinger Chaussee im Zuge der Radwegführung evtl. schon vorhanden.

Teilstrecke Gottinger Chaussee – Wallensteinstraße – Ricklinger Stadtfriedhof

  • Linienführung wie die des Regionalbus 300.
  • Grundidee ist auch die Entlastung des mit 3 Stadtbahnlinien erschlossenen Ricklinger Stadtweges und die Milderung der nach Verlängerung der Linie 17 bis Hemmingen zu erwartenden Nutzungskonflikte in diesem Stadtteilzentrum.
  • Neue Fahrgastpotentiale an der Göttinger Chaussee – Nord durch Wohnbebauung, Landesämter, Nachnutzungsverdichtungen Leichtmetall- und Telefunkengelände, Märkte und Finanzämter im Bereich EDEKA-Center.
  • Neue Lösungsmöglichkeiten für die überlastete Signalisierung der Kreuzung Göttinger Chaussee- Wallensteinstraße- Ricklinger Stadtweg.
  • Sehr viel stadtverträglichere Integration der Nahverkehrsanlgen in die Göttinger Chaussee- Süd als im planfestgestellten Entwurf durch Verzicht auf Grunderwerb, Erhalt der angerartigen Ausweitung mit allen Bäumen und Stellplätzen im zentralen Geschäftsbereich und durch eine stadtverträglichere Niederflurhaltestelle am Stadtfriedhof.

Teilstrecke Hemmingen-Westerfeld

  • Mögliche Integration der Nahverkehrsanlagen in den Straßenraum der Göttinger Landstraße,
  • Fast kein Grunderwerb erforderlich.
  • Geschwindigkeitsreduzierte Fahrbahnen neben der Gleiszone zur Attraktivitätssteigerung der Ortsumgehung im Zuge der B3.

5. Fazit

Der Text ist nun doch sehr lang geworden, aber ich hätte große Lust die angedachte Streckenführung in Straßenraum- und Platzraumentwürfe umzusetzen.Erst damit könnte man zeigen, welche Tragweite die bevorstehende„Weichen-Stellung“ für die hannoversche Stadtplanung habenwird.

Robert Schnull