Neues von Lindemann & Stroganow

Zwei Lindener erklären die Welt

Die Geschichten von Lindemann & Stroganow
gelesen von Hans-Jörg Hennecke und Kersten Flenter.

Video: Christine Kraatz-Risch – Musik: Wohnraumhelden

Streicheltechniker und Ölversager

von Kersten Flenter
Was ist bloß mit den Deutschen los? Mir scheint, als hätte die Nation in den letzten Monaten die Nächte kollektiv in der Kabadose geschlafen, soviel Zivilcourage macht schon richtig Angst. Jetzt kündigen wir alle unseren Atomstrom! Und auch sonst: Wir erleben gerade politisches Engagement allerorten. Facebook sei Dank, dass man sich heutzutage per Mausklick auf Daumen hoch oder Daumen runter konkretpositionieren kann. Gefällt mir – gefällt mir nicht – auf die Weise istzu Guttenbergs nächstes Amt, vielleicht als Kaiser, so die Online Community es beschließt, nur noch eine Frage der Zeit und der Software. Längst gibt es ja Programme zum Freunde-Shanghaien, fürchterlich ausgefuchstes Zeug, algorhythmengeschwängerter Ausdruck künftiger Meinungsmache. BILD hat als Manipulationsinstrument abgedankt, das habennur Alice Schwarzer und Marius Müller-Westernhagen noch nicht gemerkt, die sich, plus einiger anderer publicity-geiler Wichteln, noch immer vorden Karren spannen lassen, immerhin spendet BILD ja 10.000 Euro für wohltätige Zwecke für jedes Prominentenstatement, welches das Hetzorgan als volkstümlich bis gar nicht so schlimm bezeichnet. Wie auch immer, Public Relations funktioniert reibungslos, nur die trägen Funktionäre der EU hinken erklärungstechnisch so dermaßen hinterher. Da führt man mit (zugegeben fadenscheinigen) ökologischem Anspruch ein neues Benzinprodukt ein und keiner tankt es! Kaum zu glauben, wo doch jeder andere mit protzigem Superlativnamen versehene Ölmix seinen Weg an den Tankstellen macht. Aber dieses E10 … da wird dem Verbraucher tatsächlichabverlangt, sich selbst zu informieren, ob Erst-, Zweit- und Drittwagendenn gleichermaßen dem neuen Motortrunke tauglich sind! Nix da! 5% Restrisiko, das gehen wir nicht ein! Stroganow derweil lacht sich schon ins Fäustchen, weil die Verweigerung des E10 unsere Regierung nötigen wird, sich in der EU wieder mit einem Tempolimit auseinanderzusetzen, aus der Diskussion hatte man sich nämlich mit der Einführung von 10% Bioflüssigkeit herausgekauft. Mal sehen, was der Autofahrer dann von sich gibt …
Ich wünsche mir, dass der deutsche Verbraucher andere neu eingeführte Produkte auch nur annähernd ähnlich skeptisch betrachten würde. Internetbanking übers Smartphone mit dem neuen Androidsystem, Fishing-Apps aus dem Blödsinn-Store – alles kein Thema. Man geht eher das Risiko ein, sich das Bankkonto digital leerräumen zu lassen, als dasder neue Audi Kolbenfieber bekommt. Doch warum verfallen wir so leicht allem, was sich durch kurzen Klick entscheiden, vernichten oder kaufen lässt? Die Hardware-Industrie hat es begriffen: keiner hat uns lieb, keiner küsst uns, also brauchen wir Technik, die wir streicheln können. Smartphones und Tablet-PCs dienen gar nicht der mobilen Netzkommunikation, sie sind kleine Horte der Berührungen, die noch etwasauslösen können. Streicheltechnik eben. „Heute schon dein iPad geküsst?“, begrüßt Stroganow Bülent Mittelschmidt neuerdings, und ich will gar nicht wissen, was der darauf antwortet.

Eh hier nichts passiert, passiert nichts

Von Hans-Jörg Hennecke
„Reden wir mal nicht über Atomkraftwerke“, beschwört Lindemann die Hausgemeinschaft. „Loben wir unser gelobtes Land, wo es auch ein Kraftwerk gibt, das, mit umweltfreundlichem Erdgas betrieben, keine Menschen gefährdet. Schätzen wir unseren Heimatfluss, der sanfte Wellen produziert, auf denen Kinder ihre Schiffchen fahren lassen. Danken wir für eine Regierung, die sofort alle gefährlichen Geräte abschaltet, wenn im fernen Asien moderne Technik verrückt spielt.“ „In Linden kam der Strom immer aus der Steckdose“, bestätigt Oma Kasten aus dem ersten Stock.
„Jenseits der Ihme gerät die Welt aus den Fugen“, orakelt Stokelfranz düster. „Ich erahne Flüchtlingsströme am Hang des Berges.“ „Unsinn“, korrigiert Lindemann, „das sind Naturfreunde, die es zur Scilla zieht.“ Oma Kasten schlägt vor: „Man sollte über Dinge reden, die für Linden wirklich wichtig sind.“ Lindemann nickt heftig. „E10, was denn sonst?“
Kein Wunder, dass sich Stroganow Sorgen um E10 macht. Hört sich für Lindemann harmlos an wie eine Zielmarkierung beim Schiffeversenken und ist doch im Stande, Veganern die Existenzgrundlage zu rauben. E10 ist rein pflanzlicher Schnaps und die Order der Bundesregierung, das Destillat dem Benzin beizumischen, ist für Lindemann eine Idee der besonderen Art: eine Schnapsidee. Daran musste er denken, als regelmäßige Sonnenstrahlung sein Herz erwärmte und Nachbar Stokelfranz das Fahrrad aus dem Keller wuchtete: der Gongschlag zur Gartensaison 2011. Auf dem Gepäckträger hatte der Nachbar einen Papiersack geladen, dessen Inhalt durch riesige Buchstaben zum Programm erhoben wurde: Holzkohle. Lindemann sah Köhler und Köhlerliesl um einen Meiler tanzen und vom Glück träumen, das ganz von der Menge an Sommersonne abhängen würden. Die Grillsaison einigt unsere Lindener Nation plus Migranten um rostige Roste und lässt die Menschen doch in drei Fraktionen zerfallen. Stokelfranz gehört zweifellos zur traditionellen Fleisch-Fraktion, die mit Leidenschaft Bratwürsten und Nackenkoteletts frönt. Terrain gewonnenhaben längst Vegetarier, die Tiere streicheln und mit Namen versehen, sie deshalb nicht aufessen mögen. Deren radikaler Flügel sind die Veganer, die nicht einmal tierische Produkte wie Milch und Eier verzehren. Hier wird alles geliebt, was an der Tanke nun als E10 wie Sauerbier feilgeboten wird. Lindemann bewundert Vegetarier, würde ihrer Lebenshaltung gern folgen, wenn da die unbändige Fleischeslust nicht wäre. Lieber E10 als Atomkraft, meint er. Eine Schnapsidee verkraften wir doch leichter als den kollektiven Selbstmord. Allerdings fürchtet er, dass wir aus der Stromrechnung nicht rauskommen. Denn die schönen Milliarden unserer Stromkonzerne werden doch nicht preisgegeben, nur weil die Leute Angst vor Dingen haben, die man nicht einmal sehen kann. Eh hier bei uns nichts passiert, passiert eben nichts wirklich.